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Schweizer Fachzeitschrift
für Publishing und Digitaldruck


Ralf Turtschi Die Erklärung, was ein Bild ist und wie es wirkt, kann in jedem Fall nur eine persönliche Annäherung sein. Allein der Begriff des Bildes ist höchst intim. Ist ein Bild das, was ich gerade sehe, oder das, woran ich mich erinnere? Ist ein Traum auch ein Bild? Ist ein gemaltes Bild anders als ein mit Photo­shop erschaffenes? Sind Buchstaben, Wörter, Piktogramme, Logos, Magazine auch Bilder? Wie wirkt ein Kriegsbild für einen Traumatisierten und wie für einen Unbeschadeten? Wie wirkt ein Erotikbild für eine missbrauchte Frau und wie für einen Triebtäter? So individuell die Sichtweisen sind, so unterschiedlich sind die Er­klärungsversuche.

Erst Mitte der 90er-Jahre begannen Universitäten die Wirkungsweise eines Abbildes im Hirn zu verstehen und zu deuten. Und genau da liegt der Hase im Pfeffer. Es geht im Wesentlichen nicht um Form und Farbe, sondern um die Interpretation von gedruckten Bildpunkten oder Pixeln im Hirn. Zu behaupten, dass zum Beispiel «10% mehr Magenta» eine andere Wirkung im Hirn erzeugt, ist etwas wagemutig. Genauso ist die Wahl eines Motivs unter verschiedenen Variationen etwas geschmäcklerisch, denn das gute Bild unterscheidet sich nicht mit einer glasklaren Analyse vom etwas weniger guten. Argumente sind immer auch persönliche Meinungen.

In unserem Hirn sitzt eine «Vergleichszentrale», die es schafft, ein Selfie mit einer uns bekannten Person in Verbindung zu bringen. Auf die gleiche Art und Weise erkennen wir problemlos die Silhouette des Matterhorns, ganz gleich, ob dieses morgens oder in der blauen Stunde fotografiert wurde. Wir erkennen es selbst in stilisierter Form auf der dreieckigen Schokolade. Dazu muss man es aber schon gesehen und «abgelegt» haben. Auch die gelbe Farbe der Post ist hinterlegt. Ob das Gelb etwas heller oder dunkler strahlt, ist dem Hirn egal, es gleicht die Informationen mit dem im Hirn Gespeicherten ab und erkennt aus Gelb und weiteren Merkmalen: Das ist die Post. Damit soll nicht gesagt sein, dass alle Bemühungen um eine kon­sistente Farbe im Unternehmen sinnlos sind! Das Hirn setzt automatisch einen Erkennungsprozess in Gang: 1. Was ist auf dem Bild zu sehen? 2. Erkenne ich auf dem Bild etwas mir Bekanntes? 3. Welche Bedeutung hat das mir Bekannte, ist es für mich wichtig oder nicht? 4. Welche Gefühle löst das Bild in mir aus, wie stehe ich dazu? 5. Von wem ist das Bild? 6. Warum hat der Fotograf das Bild veröffentlicht? 7. Was will er damit ausdrücken?

Bilddiskurs

Fotografen und Medienschaffende mit Sendungsbewusstsein interessiert die Frage, mit welchen Tricks ein Bild wirksamer, auffälliger, oder schöner gestaltet werden kann. Die verschiedenen Genres der Fotografie wie Mode, Stillleben, Sport, Akt, Natur, Architektur, Makrofotografie usw. lassen sich niemals über einen Leisten schlagen. Während in der Architektur Strukturen, Perspektiven oder Farben prägend sind, werden in der Modewelt Gefühle angesprochen, wird in der Erotikfotografie mit der Sexualität gespielt. In jedem Genre gilt etwas anderes: die andere Perspektive, der magische Moment, das flache Licht, die staunende Mimik, die eingefrorene Bewegung, die Proportionen im Bild.

Martin Zurmühle, Fotograf ausLuzern, wendet in seinen beiden Büchern «Bildanalyse» und «Bild-sprachen» die These des Kommunika­tionsquadrates auf Bilder an. Danach besteht jedes Bild aus den vier Ausprägungen Sachinhalt, Selbstkundgabe, Appell und Beziehungshinweis. Bei gewissen Bildern ist eine strukturierte Analyse einfacher als bei anderen. Als Resultat entsteht ein Netzdiagramm mit vier verschiedenen Ausprägungen. Christian Dölker beschreibt Bilder in seinem Buch «Ein Bild ist mehr als ein Bild» aus der Sicht des Betrachters. Dieses Buch gibt einen leicht verständlichen Einblick, wie Bilder überhaupt funktionieren. Steffen-Peter Ballstaedt untersuchte, wie wir mit dem Auge-Hirn-System Bilder scannen und verarbeiten. Er spricht von einer voraufmerksamen Verarbeitung, die intuitiv erfolgt und eine automatische Zuwendung auslöst. Zum Beispiel mit Abbildungen von Gesichtern, nackter Haut oder von Tieren. In der aufmerksamen Verarbeitung scannt das Auge sakkadenartig über das Bild und «liest» es. In einer dritten Phase folgt die Interpretation.

Sein und Schein

Jedes Bild besteht aus Form und Farbe. Zur Form gehören Objekt, Hintergrund, Struktur, Perspektive, Linien, Flächen usw. Zur Farbe gehört das Licht, welches die Farbe erst ermöglicht. Über das, was auf dem Bild zu sehen ist, ist man sich schnell einig. Diese Wirklichkeit lässt keine Deutung zu. Zu Differenzen führt naturgemäss die Frage, wie das Bild zu interpretieren sei. Und da gibt es objektive und subjektive Ansätze. Objektiv heisst, dass die meisten Betrachter so empfinden. Subjektiv heisst, dass man als Individuum durchaus anderer Meinung sein kann, die nicht dem Mainstream entspricht. Die technische Wiedergabe ist eine andere Geschichte. Ob gedruckt oder auf dem Screen, ist dem Hirn egal. Auch Papier, Rasterweite oder Filtertechnik in Photoshop zähle ich zu den technischen Dimensionen, die mit dem eigentlichen Bildaufbau nichts zu tun haben, das Bild aber in der Aussage wesentlich unterstützen können. Mit Bildverarbeitungstechnik wird das Bild gehaltvoller. Ich spreche von Kontrast, Farb- und Dynamikumfang, Farbstimmung, Ausschnitt, Retusche usw.

Wer konstruiert ein Bild?

Formale Aspekte sind im Bild am leichtesten und ohne Interpretation zu beschreiben. Oben–unten, vorn–hinten, links–rechts, dunkel–hell, gross–klein, bunt–unbunt, scharf–unscharf, symmetrisch–asymmetrisch und andere formale Kriterien beurteilen wir alle gleichartig. Aus solchen Gestaltgesetzen werden in allen Lehrbüchern auch Proportionen kolportiert. Die hier abgebildeten Fotos mit den typischen Bildkanten machen Verhältnisse sichtbar. Beim Fotografieren arbeite ich nicht bewusst mit Proportionen. Da spielen viele andere Gestaltungsfaktoren wie Farben oder Strukturen mit. Vielleicht ist es bei mir auch Intuition oder einfach mein Auge, so wie ich die Dinge eben sehe. So richtig kann ich das nicht sagen, die Ausschnittwahl passiert einfach.

Bestimmt haben Sie schon von der Drittelsregel gehört. Zum Beispiel soll eine Bildkante im oberen oder unteren Drittel des Bildes positioniert werden, und schon würde das Bild besser aussehen. Solche Aussagen finde ich problematisch. In einem Bild sind immer irgendwelche Proportionen auszumachen – wer sie zur Rechtfertigung sucht, findet sie. Ein nach der Drittelsregel positioniertes Bild wirkt eher dynamisch. Ob es dann aber genau oder nur etwa ein Drittel ist, hat kaum Auswirkungen auf die Bildaussage. Im Gegensatz dazu wirkt ein zentriertes Motiv statisch und harmonisch. Wobei die optische Mitte die richtige ist, die etwas höher steht als die geometrische Mitte. Vielleicht sollten wir eher von Harmonie und von Dynamik sprechen, wenn wir Bilder beurteilen. Viele Hobbyknipser zielen mit der Kamera auf das Motiv und lösen aus – bei den meisten Urlaubsbildern ist das Motiv dann in der Mitte platziert, nicht eben spannend und dynamisch. Da hilft vielleicht die Drittelsregel.

Der Goldene Schnitt (1:1,618 oder Fibonacci-Reihe 3 : 5 : 8 :13 :21 …) erfährt in der Lehrmeinung oft eine Bedeutung, die ihm nicht ganz zusteht. Die stets wiederholte Behauptung, ein Bild würde harmonisch aussehen, wenn die Proportionen des Goldenen Schnitts eingehalten würden, ist eine narrative Konvention. Der Beweis dafür steht noch aus. Steht harmonisches Aussehen nicht im Widerspruch zu Spannung und Dynamik, die wir anstreben? Zudem werden Proportionen immer horizontal–vertikal beurteilt, das Bild hingegen zeigt auch Perspektiven oder Schrägen. Anstatt sich bei Bildproportionen an die Drittelsregel oder an den Goldenen Schnitt zu klammern, kann man gerade so gut «einfach draufhalten». Proportionen lassen sich sowieso nur dann gestalten, wenn Motiv und Kamera statisch sind, nicht bei bewegten Situationen.

Eine weitere Manie ist, in der Architektur stürzende Linien von Gebäuden zu begradigen. Damit wird dem natürlichen Sehen entgegengewirkt, welches Grosses als «vorn» und Kleines als «weiter weg» interpretiert. Bei Hochhäusern, die dicht am Bau von unten zu sehen sind, sieht die Parallelper­spektive schrecklich aus. Begradigungen wirken nur bei weiter weg stehenden Gebäuden glaubwürdig.

Mit der Handyfotografie ist auch das Hochformat plötzlich wieder en vogue. Nicht erstaunlich, sitzt doch der Auslöser an einem anatomisch unmöglichen Ort, sodass hochformatige Bilder einhändig leichter zu knipsen sind. Hier ist eine verkehrte Technik schuld an hochformatigen «Panoramabildern»!

Ich habe hier nur Form und Farbe angeschnitten. Wichtige Aspekte wie Körpersprache, künstlerische Fotografie oder andere sind nicht behandelt. Die Bilder entstanden im Juni 2015 in Kos im Astir Odysseus, Resort & Spa, www.astirodysseuskos.com. Der Architekt dieser wunderbaren Anlage heisst Ilias Mastrominas, Athen.

swiss publishing days

Am Freitag, 6. November, 15.40 Uhr spricht Ralf Turtschi über Bild­gestaltung und Bildsprache. Lassen Sie sich inspirieren von der Macht und vom Zauber der Bilder und tauchen Sie ein in Farbe, Licht, Perspektive, Komposition, Struktur und Form.

Der Autor

Ralf Turtschi ist gelernter Schriftsetzer, Buchautor und Publizist. Er ist Inhaber von Agenturtschi und als engagierter Hobbyfotograf unterwegs. Der Autor schreibt im Publisher seit Jahren praxisbezogene Beiträge zu Themen rund um Typografie und Gestaltung. turtschi@agenturtschi.ch